Das Fenster war unser einziger Ausweg.
Naja, wenn du im vierten Stock lebst, Ausweg
ist nicht wirklich ein Weg.
Sagen wir so, das Fenster war die einzige
Verbindung, die ich, die wir, zur Welt draussen
hatten.
Als ich klein war, wir haben ständig Filme
über den Zweiten Weltkrieg gesehen.
Weil das die einzigen Filme waren, die sie
im Fernsehen gezeigt haben.
Oft, wenn ich diese Helden sah, die sich
opferten und nie zweifelten, fragte ich mich, was
hätte ich getan, wenn ich mich umgeben von
Propaganda, von normalem Wahnsinn und systematischer Gewalt gefunden
hätte?
Hätte ich die richtige Seite zum Kämpfen gewählt?
Damals hatte ich keine Zweifel.
Heute bin ich mir nicht mehr so sicher.
Also, ich erzählte gerade vom Fenster.
Wahnsinnig, wie schnell man sich an das Unmögliche
gewöhnt.
Weisst du, wenn du einen dystopischen Roman liest
und wütend auf die Hauptfigur bist, und du
denkst, mach doch was, reagier, kämpf!
Aber wenn du mittendrin bist, sieht es ganz
anders aus.
In einer Welt, in der Menschen zu Hause
eingeschlossen sind, ist das Fenster die einzige Öffnung
zur Welt.
Es war von meinem Fenster im vierten Stock,
dass ich sah, wie die Welt still stand.
Leere Strassen, stille Städte, eine verlassene Wirklichkeit.
Weisst du noch die Panik beim ersten Lockdown?
Wie die Angst uns misstrauisch machte.
Jedes Mal, wenn ich daran denke, spüre ich
einen Stich der Scham im Bauch.
Ich rede nicht von Impfungen, Verschwörungen oder angeblicher
Terrorstrategie.
Nein, wofür ich mich tief schäme und was
ich nicht vergessen oder zugeben kann, ist eine
kleine Geste, die mir Hoffnung hätte geben müssen.
Und stattdessen hat eine Reaktion ausgelöst, die ich
nicht erkenne.
Und jedes Mal, wenn ich daran denke, schäme
ich mich.
Aber hier ist sie trotzdem.
Ich stehe am Fenster.
Die Strassen sind leer.
Leer, leer, leer, wie du es dir nicht
vorstellen kannst.
Und das einzige Geräusch sind die Sirenen der
Krankenwagen.
Wir sind schon in der vierten oder fünften
Woche des Lockdowns.
Mit totalen Ausgangssperren, lange bevor es Impfstoffe gab.
Und die Medien, nonstop Bilder von hunderten Särgen zeigten,
Leichen, Menschen die wegen einer Erkältung ins Krankenhaus
gingen und nie wieder rauskamen.
Natürlich eriennest du dich dran.
Von meinem Fenster sehe ich zwei Gestalten, die
zueinander laufen.
Ein Junge und ein Mädchen, kaum älter als
Teenager.
Sie schleichen sich an, umarmen sich und, zu
meinem Ersetzen, küssen sich auf den Mund.
Ich zittere bei dem Gedanken an ihre Eltern
und Großeltern, die dem Virus ausgesetzt sind.
Ich zittere und werde wütend, urteile und verurteile.
Und heute kann ich nicht daran denken, ohne
mich tief zu schämen.
Ich hätte jubeln, klatschen und lächeln sollen.
Stattdessen stand ich da am Fenster, voller Angst
und Verachtung.
Und es tut mir so leid.
Unendlich leid.